GESCHICHTE DER BAND

Aquarium gilt als legendäre Band, Boris Grebenshikov als legendärer Bandleader. Wie bei den Beatles, Bob Marley, Bob Dylan oder David Bowie, existiert auch über Aquarium eine Vielzahl sagenhafter Geschichten. Eine Chronik oder Biografie, und sei sie noch so genau recherchiert, kann zwar helfen, mit ihrem Schaffen vertraut zu werden, ist aber an sich auch nur wieder eine Legende. Die wahre Geschichte wird in ihren Liedern erzählt. Dort finden wir sie, in vollem Umfang.

Aquarium hat Fans in allen Altersgruppen. Für sie alle ist das weit mehr, als einfach nur Musik, es ist ein wichtiger Teil Ihres Lebens. Aquarium hat ihnen geholfen, nicht unterzugehen im Grau der Sowjetzeit, nicht vom Weg abzukommen in der schwierigen Zeit des Umbruchs, und Aquarium hilft Ihnen heute, im Zeitalter der kommerziellen Musik, hinter der Fassade nicht das Wichtigste zu vergessen. Aquarium, das ist eine Sicht auf die Welt. Ein schöpferischer Lebensinhalt, eine Alternative zu Unfreiheit und Beschränktheit in jeder Form. Aquarium ist ein Spiegel, in dem ein jeder sich erkennen kann, in einem ganz anderen Licht, als er sich im Alltag sieht. In ihren Liedern kann jeder für sich selbst etwas entdecken, weil alles von einer besonderen Qualität ist, seien es die Aufnahmen, die Musik, die Texte oder die ungeheure Vielseitigkeit. Die ständigen musikalischen Experimente, eine stets deutlich spürbare Spontanität und Unkonventionalität sind das Geheimnis ihrer ungebrochenen Popularität, auch beim jüngeren Publikum.

Die leise ausdrucksvolle Stimme von Boris Grebenshikov macht auf sich aufmerksam und zieht uns in Ihren Bann durch die frohe und gelassene Botschaft, dass man nicht unbedingt das eintönige Leben aller anderen leben muss, dass es stets auch andere Vorstellungen, andere Wege, einen Ausweg gibt. Die Lieder von Aquarium strahlen diese Überzeugung aus, und sie erstrahlen von der Energie der Liebe. Ohne Aquarium würden viele Menschen ganz anders leben und sehr viele Dinge ganz anders aussehen.

Aquarium entstand 1972 in Leningrad. Damals herrschte in der UdSSR ein sehr strenges staatliches Regime, das Leute mit angepasster Weltanschauung brauchte, und ebenso eine diesem Regime hörige, unfreie Kultur. In dieser Umgebung wirkte die Rockmusik wie ein frischer Luftzug. Rock'n'Roll wurde die Alternative zum Lebensstil der Sowjetgesellschaft. Wenngleich es auf den ersten Blick unmöglich schien, sich ernsthaft mit Rock'n'Roll zu befassen - gelangte doch nichts ins Radio oder auf die Fernsehschirme, was dem herrschenden Regime suspekt war.

Doch spürte man bereits Veränderungen, etwas Neues lag in der Luft, selbst wenn es noch nicht alle bemerkten, und es gab Menschen mit der tiefen inneren Berufung, Musik zu machen. Einer von ihnen, Boris Grebenshikov, Student der angewandten Mathematik an der Leningrader Universität, und sein Freund aus Kindertagen, Anatoli Gunizki (mit Spitznamen „George“ wegen seiner Ähnlichkeit mit George Harrison), Dramaturg und ein Poet des Absurden, gründeten eine Band und nannten sie Aquarium. Mit der Zeit änderte sich die Besetzung, Andrej Romanow (Flöte, Piano), Wsjewolod Gakkel (Cello), Michail Fainstein-Wassiljew (Schlagzeug) und Alexander Alexandrow (Fagott) kamen hinzu. George zog sich von der Musik zurück und widmete sich dem Theater, dennoch entstanden in den kommenden Jahren viele Lieder aus seinen Gedichten. Die ersten Jahre waren für die Gruppe „eine Zeit verschwommener Mythologie, eine ständige Wanderschaft zwischen den Ingenieurspalästen dieser Welt mit Gitarre, Flöte und Cello“. (B.G.) (Anm. d. Übersetzers: Der Ingenieurspalast hieß ursprünglich Michaelspalast und wurde unter dem Zaren Paul I., einem Sohn Katharinas der Großen, errichtet. In späteren Jahren wurde daraus eine Hochschule für Militäringenieurwesen (daher „Ingenieurspalast”). Die Eingangstreppe diente in der ersten Zeit als Probebühne für Aquarium und zur Aufführung der von George verfassten Theaterstücke.)

Obwohl die Sowjetbürger „offiziell“ von der westlichen Kultur isoliert waren, hatte westliche Musik stets einen starken Einfluss auf Aquarium. Grebenshikov: „…ich bin mit Musikkonserven und dem Radio groß geworden, und Rock’n’Roll war für mich – selbstverständlich – ein magisches Zusammenspiel von Tönen aus dem Lautsprecher“. Auf Grund seiner guten Englischkenntnisse kannte er sich hervorragend aus, und das Niveau, das Aquarium verfolgte, war Weltspitze.

Die historische Zeitrechnung der Band beginnt 1980. Die Rockmusik im Land war zwar eine Untergrundbewegung, entwickelte sich aber dennoch weiter, was den offiziellen Stellen nicht verborgen bleiben konnte, und so wurden zunehmend Musikveranstaltungen inszeniert, wo die neuen Gruppen einerseits auftreten und andererseits von offizieller Seite besser beobachtet werden konnten, die Rockmusik wurde also sozusagen legalisiert. In Wirklichkeit wurde der Rock erst viel später legal, auch wenn bereits 1981 in Leningrad ein Rockclub gegründet wurde. 1980 fand in Tbilissi ein Rockfestival statt, bei dem auch Aquarium auftrat. Die Gruppe lebte nie in offener Feindschaft zum staatlichen Regime, sie lebte einfach in einer anderen Welt (B.G.: „Aquarium – das ist ein Lebensstil.“). Es ist offensichtlich, dass dieser für Aquarium selbstverständliche Lebensstil aus „offizieller“ Sicht der Dinge absolut nicht selbstverständlich war. Der Auftritt von Aquarium, die damals Punkmusik spielten, erzürnte die Jury aufs Äußerste. Der Leadsänger, Boris Grebenshikov, verlor den Arbeitsplatz eines „Ingenieurs für hundert Rubel“ (Zitat aus dem Lied „25 zu 10“ vom Album „Akustik“), wurde aus dem Komsomol (Anm. d. Übersetzers: Komsomol ist der damalige kommunistische Jugendverband, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei, KPdSU) ausgeschlossen und hatte somit auch nicht die geringste Chance, sein Leben (nach den traditionellen Begriffen der Sowjetzeit) in den Griff zu bekommen. Er fand eine Stelle als Nachtwächter und machte nebenher weiter Musik.

Damals nahmen Rockmusiker selbstverständlich auch ihre Titel im Untergrund auf. Die Aufnahmen selbst waren eine große Rarität, wurden Dutzende Male überspielt und werden heute noch von denen liebevoll aufbewahrt, die diese Zeiten miterlebt haben. Für professionelle Musikaufnahmen gab es nur äußerst beschränkte Möglichkeiten, und es war schwer, gute Alben mit elektronischen Instrumenten zu produzieren (doch Aquarium meisterte auch diese Schwierigkeiten), aber es gab durchaus Studios für Aufnahmen in guter Qualität. Eines der bekanntesten ist das Studio von Andrej Tropillo, wo viele Alben entstanden, die heute zu den Schätzen der russischen Rockmusik gezählt werden. Hier hat auch Aquarium mehrere Alben aufgenommen: „Sinnij Albom“ („Blaues Album“), „Treugolnik“ („Dreieck“), „Akustika“ („Akustik“), die Studioaufnahmen zu „Elektritschestwo“ („Elektrizität“), „Tabu“ („Tabu“), „Den Serebra“ („Tag des Silbers“), „Deti Dekabrja“ („Kinder des Dezember“).

In den 70er und 80er Jahren spielte Aquarium ständig auf sogenannten „Kvartirnik”, eine besondere Erscheinung im sowjetischen Alltag, im russischen musikalischen Untergrund. Diese Konzerte fanden in Wohnungen statt, meistens zu Hause bei einem der Zuhörer. Die Gruppe spielte nur mit kleiner Besetzung – zu laut spielen durften sie nicht, damit die Nachbarn nicht die Miliz verständigten (denn selbstverständlich waren solche Konzerte verboten). Die Atmosphäre erinnert an ein Kammerkonzert, die Zuschauer sitzen direkt vor den Künstlern, lauschen mit angehaltenem Atem, und irgendwer macht vielleicht eine Tonbandaufnahme. Diese Konzerte wurden oft durch die Miliz gesprengt.

Doch ohne Rücksicht auf mögliche Unannehmlichkeiten, wenn man sich mit offiziell verbotener Musik beschäftigte (und sei es nur als einfacher Zuhörer bei den Wohnungskonzerten), hörten die Leute weiter Aquarium, kamen zu Aquarium, besorgten sich Aufnahmen von Aquarium, und die Zahl derer, die diese Musik liebten, wuchs beständig. In einer Zeit, in der der Mensch nur als Mitglied einer Gemeinschaft und nicht als eigenständige, freie, individuelle Persönlichkeit wahrgenommen wurde, waren die Lieder von BG wie Wasser zum Überleben. Sie erzählten ebenso von den Dingen, die uns umgeben, aber sie nannten all diese Dinge beim Namen, mal philosophisch-abstrakt, dann wieder mit schonungsloser Ironie. Und was das wichtigste ist, sie halfen den Menschen, sich selbst von einer neuen Seite kennenzulernen. Aus der gewohnten, beschränkten Welt stießen sie die Tür auf in die übrige Welt, so dass diese auf einmal zu einer einzigen, unendlich großen Welt wurde. Sie handelten von sehr einfachen Dingen – Liebe, Freiheit, und sie gaben stets zu verstehen, dass man würdig leben kann, wenn man nur sich selbst treu bleibt und das tut, wozu man wirklich bestimmt ist. Die Texte der Lieder wurden zu Zitaten verarbeitet, als Aphorismen weitergegeben und halfen so, sich zu orientieren, die Vorgänge um einen herum richtig zu beurteilen. Dank dieser Lieder dachten viele zum ersten Mal über Themen wie Gott und Religion nach, darüber, dass es auf der Welt noch ein anderes Leben und andere Ansichten vom Leben gibt.

Und bei all dem waren diese Lieder, die für viele zur philosophischen Erleuchtung wurden, stets von erlesener Schönheit und musikalischer Vielfalt. Bei Aquarium finden wir Reggae, Blues, Punk, Jazz und alle möglichen ethnischen, folkloristischen Motive, von Irland bis zum Orient, schweren Elektrosound und hauchzarte Klänge. Stets konnte man spüren, dass Aquarium ein Teil der musikalischen Weltkultur war, alle Traditionen des Rock’n’Roll in sich aufgenommen hatte, untrennbar mit ihnen verwoben war, ohne seine zutiefst russischen Wurzeln zu verlieren. Ein Markenzeichen von Aquarium ist die Liebe zur Eklektik, zur Vielfalt, zur Kombination unterschiedlichster Stile, Richtungen, Techniken. Und dabei wächst alles zu einem völlig harmonischen Ganzen. Hervorragendes Beispiel hierfür ist das Album „Radio Afrika“ von 1983, ein Meilenstein der russischen Musikgeschichte. Es stand für ein neues Niveau bei Inhalt und Aufnahmequalität.

Allein auf Gott vertrauend, machten die Männer von Aquarium weiter das Unmögliche möglich, um Alben zu produzieren, existierten in völliger Mittellosigkeit, halb illegal oder in völliger Illegalität, bis sich die Lage endlich zum Besseren veränderte. Insbesondere wurde die Rockszene, wenn auch vorsichtig und anfangs gepaart mit einer gehörigen Portion Schreckhaftigkeit, zunehmend interessant für die Medien. 1984 und 1986 ist Aquarium Gast der Fernsehsendung „Musikalischer Ring“ („Musykalnyj Ring“). Viele Sendungen, Fernseh- und Presseinterviews sollten folgen.

Zu dieser Zeit genießt die Gruppe bereits riesige Popularität. Das Treppenhaus vor Grebenshikovs Wohnung in Leningrad ist ständig von Fans belagert, die darauf hoffen, einen Blick auf ihr Idol zu werfen. Konzerte sind stets ausverkauft und werden immer größer. „Ab Herbst 1986 zogen wir von Stadion zu Stadion und wurden mit stürmischen Ovationen gefeiert, als hätten wir eigenhändig die Sowjetmacht abgeschafft“. (B.G.) Wie am Fließband werden hervorragende Alben produziert: „„Den Serebra“ („Tag des Silbers“), „Deti Dekabrja“ („Kinder des Dezember“), „Desjat Strel“ („Zehn Pfeile“). 1987 entsteht „Rawnodenstwie“ („Tagundnachtgleiche“).

Aquarium hat keine feste Besetzung, so sind bei Aufnahmen und Konzerten immer gerade die Musiker vertreten, die zu diesem Zeitpunkt am besten passen. Darunter sind erstklassige Musiker, wie z.B. Sergej Kurjochin, ein ausgezeichneter Pianist mit positivem musikalischem Weltverständnis, der von Zeit zu Zeit in der Besetzung auftauchte und die Gruppe insgesamt stark beeinflusst hat. Alexander Ljapin, ein Virtuose auf der Elektrogitarre, Alexander Titow, ein hervorragender Bassist, der Violinist Alexander Kussul, dessen Violine der Musik einen neuen Maßstab verlieh, und viele andere…

1986 erscheint in den USA das Doppelalbum „Red Wave – 4 underground bands from the USSR“. Aquarium ist darauf mit sechs Liedern vertreten.

Im Land gehen die Veränderungen weiter, Schritt für Schritt wird die undurchdringliche Mauer zerstört, die die UdSSR vom Westen trennte, der schöpferische Austausch über Ländergrenzen hinweg wird zur Normalität. Es entsteht ein gemeinsames russisch-westliches Musikprojekt, die russische Seite vertreten durch Grebenshikov („…ich war wohl (seit 1917) der erste freie russische Mensch im Ausland“ (B.G.)). 1989 nimmt Grebenshikov in den USA mit hervorragenden Musikern, überwiegend von der Gruppe Eurythmics, das Album „Radio Silence“ in englischer Sprache auf. Eine neuartige Produktion, die vom Klangbild her absolut nichts gemein hatte mit dem, was Aquarium früher gemacht hatte. Zum Erscheinen von „Radio Silence“ gibt es eine Reihe von Konzerten in ganz Russland. 1990 wird in London ein zweites englischsprachiges Album aufgenommen, „Radio London“. Während seiner Auslandsaufenthalte lernt Grebenshikov viele bekannte westliche Musiker kennen und wird in späteren Jahren einige seiner Platten zusammen mit ausländischen Musikern einspielen. Die anderen Musiker von Aquarium betreiben in Abwesenheit des Bandleaders ebenfalls eigene Projekte.

Wieder in Russland, widmet sich BG vorwiegend neuen Liedern, die Gruppe heißt diesmal jedoch nicht Aquarium, sondern „BG-Band“. Dazu gehören, außer Grebenshikov, Oleg Sakmarow, musikalisches Multitalent und Musikwissenschaftler, der hervorragende Akkordeonspieler Sergej Schurakow, der Gitarrist Alexej Subarew, Andrej Reschetin an der Violine, der Schlagzeuger Pjotr Troschenkow und andere. Diese Band hat „eine andere Mission“ (B.G.). Die in dieser Zeit entstandenen Lieder, größtenteils veröffentlicht auf „Russkij Albom“ („Russischen Album“), zeichneten einerseits ein exaktes und zeitgemäßes Bild der Veränderungen und spiegelten andererseits genau die tief verwurzelte besondere Atmosphäre in Russland wider, wie sie schon seit vielen Jahrhunderten existiert. Zeiten des Umbruchs bedeuten stets in gleichem Maße die Möglichkeit, sich (moralisch) sehr hoch zu erheben, wie auch sehr tief zu fallen. Das gesamte „Russische Album“ ist von diesem Gefühl der Unbeständigkeit getragen, man spürt den Bruch und findet dennoch an vielen Stellen die Hinwendung zu Gott. Fast jedes der Lieder ist ein Gebet.

Es folgt die „Rückkehr“ von Aquarium mit dem Album „Ljubimye Pesni Ramsesa IV“ („Die Lieblingslieder Ramses IV“) im Jahre 1993. Zwischen 1994 und 1996 erscheinen eins nach dem anderen drei wunderbare Alben, die auf ihre Weise einen Zyklus bilden: „Kostroma Mon Amour“, „Navigator“ und „Sneshnyj Lew“ („Schneelöwe“). Hier finden wir sehr viele Walzer – typisch russische Melodik, Liedhaftigkeit, gute Laune. Und wieder die für Aquarium typische Eklektik, den großen Einfluss fernöstlicher Musik und Philosophie. Alle drei Alben sind von einem besonderen Geist durchdrungen: einem sehr russischen, einem – im besten Sinne dieses Wortes - sehr dörflichen Geist. Aquarium beherrschte stets meisterlich die leisen Töne der Kammermusik, vielleicht auch durch die langjährigen Auftritte in Wohnungen. Besinnlichkeit, die Atmosphäre des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht, nicht riesige Massenveranstaltungen. Bezaubernde Lieder, die oft nicht sehr an Rock erinnern, sondern einen ganz besonderen Musikstil eigener Prägung verkörpern.

In den 90er Jahren erfüllt Aquarium die gleiche Rolle, wie auch in den 70ern und 80ern – eine Alternative zu bieten zu allem, was uns Beschränkungen auferlegt. Genauer, Aquarium zeigt diese Alternative auf. Aquarium ist das Kommunikationsinstrument für die momentan wichtigsten Informationen, für das, was die Menschen am dringendsten brauchen. Darum ist jedes ihrer Alben aktuell. Anfang der 90er Jahre waren die eindringlichen Gebete des „Russischen Albums“ sehr notwendig, danach, in einer Zeit der Anspannung, Unbeständigkeit und Kommerzialisierung der Gesellschaft, das Licht Puschkinscher Poesie, Tiefgang und Liebe, wie auf den drei Alben der „russischen Periode“ zu hören. Danach sind die Zeiten, die Atmosphäre in der Gesellschaft, aber auch die eigene Laune, abermals starken Veränderungen unterworfen. 1997 erscheinen das zutiefst mythologisch geprägte „Hyperborea“, das hervorragende „Lilith“, das gemeinsam mit westlichen Musikern, diesmal „The Band“, eingespielt wurde. Will man eine Parallele ziehen, kann man die Lieder auf „Lilith“ am ehesten mit dem Begriff der Mythologie umschreiben, deren Ausdruck jegliche wirkliche Poesie ist – sie beschreiben die Beziehung zwischen dem Dichter und ihr, seiner Muse.

Boris Grebenshikov nimmt nicht nur eigene Lieder auf. 1994 erscheint eine Platte mit Liedern von Alexander Wertinski, 1999 von Bulat Okudshawa. Beide Platten wirken sehr authentisch, erhalten den ursprünglichen Charakter der Lieder und tragen dennoch deutlich individuelle Züge. Es gibt noch weitere sehr interessante Projekte: Alben mit Instrumentalaufnahmen, das wundervolle Album „Pribeshische“ („Fluchtstatt“) mit tibetischen Mantren, eingespielt mit Gabrielle Roth und ihrer Gruppe „The Mirrors“ und 2002, wiederum mit ihnen , das Album „Bardo“. 2001 erschien „Pjatiugolnyj Grech” („Die fünfeckige Sünde”) mit Liedern zu Gedichten von Anatoli Gunizki. Von Aquarium stammen auch einige Musiken zu Theateraufführungen und Filmen (von Sergej Solowjow, zu „Zwei Kapitäne – 2“ von Sergej Debishew u.a.).

1999 erscheint das Album „ “ („Psi“), das mit den Vorgängern keine Ähnlichkeit hatte, 2002, zum 30. Bühnenjubiläum, „Sestra Chaos“ („Schwester Chaos“), ein sehr direktes, vielseitiges Album, das viele heutige Entwicklungen aufs Korn nimmt. Aquarium klammert sich nicht an einen festen musikalischen Stil oder bestimmte Klangmuster: der Sound von „Schwester Chaos“ unterscheidet sich von allen vorherigen Alben. Es wird vor allem vom Rhythmus beherrscht. Boris Grebenshikov hat erstklassige Musiker um sich geschart: Boris Rubekin (Tasteninstrumente), Andrej Surotdinow (Violine), Wladimir Kudrjawzew (Bass), Albert Potapkin (Schlagzeug), Oleg Schar (Prercussion).

2003 erscheint das Album „Pesni Rybaka“ („Des Fischers Lieder”), das in Indien und Russland gemeinsam mit indischen Musikern aufgenommen wurde. Harmonisch fügen sich indische Klänge indischer Musik mit der Musik von Aquarium zu einem Ganzen. Auch Elemente des Jazz haben in dieses Album Eingang gefunden. Die Lieder sind fröhlich und unbeschwert, ganz anders als der monumentale und spannungsgeladene Vorgänger „Schwester Chaos“.

Aquarium – das ist ein Meer an Energie, ein echtes Wu-Xing. Von unendlicher Vielfalt und unvorhersehbar, wie das Leben selbst. Man weiß nie, was die nächste Platte bringen wird. Doch auch die älteren Alben werden nie wirklich „alt“, und das programmatische Zitat vom berühmten „Radio Afrika“, „der Rock'n'Roll ist tot, doch ich bin's noch nicht“, regt bis heute viele Menschen an, sich mit dem Wesen von Kunst auseinander zusetzen.

Maria Golikowa
2004